Buchhinweis im 
März
 
2009
 

Das volle Leben

Susanna Schwager
Band 1: Frauen über 80 erzählen, Band 2: Männer über 80 erzählen
Wörterseh

Will die jüngere Generation sich ein Bild vom Leben in der Schweiz in den letzten 80 Jahren machen, sind die beiden Bücher von Susanna Schwager ein guter Tip. Wir Älteren begegnen in den beiden Büchern Männern und Frauen, die unser Leben begleitet haben oder als Unbekannte neben uns lebten. Ihr Lebenslauf mit all seinen Verästelungen mag in einigen Dingen dem unseren ähneln. Und doch: ein jedes Leben ist einmalig.

Das heisst: Ein Menschenleben gibt’s nur einmal und kein zweites Mal. Selten wurde mir die Originalität eines jeden Menschenlebens so bewusst wie bei der Lektüre der Lebensbilder der 12 Frauen und 11 Männer, die alle über achtzig Jahre alt, teils gar in den Neunzigerjahren sind.

Und wie Susanna Schwager die Geschichten dieser Menschen schreibt! Sie verwendet ausschliesslich Zitate aus den Tonband-Aufnahmen, wählt aus, setzt zusammen, ohne etwas zu beschönigen oder zu erfinden. Dabei bringt sie es fertig – und das ist das Faszinierende an jeder Geschichte: Beim Lesen werden sowohl die Originalsprache als auch die Eigenart der Sprechenden mitsamt dem Tonfall hörbar . Unglaublich, die Stimmung die entsteht, wie Mitfühlen, Mitleiden, Mitfreuen Realität werden. Nicht nur Personen, die aus ihrem Leben erzählen, auch Leserinnen und Leser werden zu Tränen gerührt.

Bunt gemischt sind bekannte und unbekannte Menschen porträtiert. Von den ersteren erfährt man Neues über ihr Denken und aus ihrem persönlichen Umfeld. Ich denke etwa an Ferdi Kübler, Radrennfahrer, oder an Arnold Hottinger, Auslandberichterstatter aus dem Nahen Osten, an die Schauspielerinnen Stefanie Glaser und Anne-Marie Blanc. Fein und intim gezeichnet sind auch die Lebensbilder der weniger Bekannten. Ich denke da an den alten allein stehenden Hufschmied Franz Beck, der Schweres hat durchstehen müssen und allein in seinem Haus neben der Schmitte lebt. Jetzt im Alter hat er Wasser in den Fussgelenken. Darum muss er Strümpfe anziehen. Zwei Paar im Jahr bezahlt die Krankenkasse. Wenn sie neu sind, bringt er sie nicht über die Füsse und Unterschenkel. Dann hilft ihm am Morgen die benachbarte Nichte in die Strümpfe. „So eine Liebe ist das“, sagt der ehemalige Schmied, Militär-Hufschmied und gewesener Brunnenmeister.

Susanna Schwager hat zuerst das Buch mit den 12 Frauenporträts geschrieben. Nach der Fertigstellung des Buches über die Männer stellte sie fest, nie etwas von Härte oder Geringschätzung gegenüber Frauen gehört zu haben. Männer bräuchten länger, bevor sie von sich selber, statt von ihren Rollen reden. Aber Männer reden – so die Autorin - auch im hohen Alter noch gern von Frauen und drücken gern ihre Verehrung aus. In einem Männerleben scheinen Frauen einen wichtigeren Anteil zu haben als umgekehrt. Aber eben: Susanna Schwager will nicht von einer Regel reden; vielleicht ist es bei ihrer Arbeit zufällig so gewesen.

Zwei wunderbare Bücher über Spuren, die die Zeit in jedem Leben hinterlässt!

Susanna Schwager lebt in Zürich. Das Buch über die Frauen hat sie im Jahre 2007 am Sihlsee beendet, das über die Männer im Jahr darauf in Südfrankreich. Die eindrücklichen Schwarzweiss-Fotos der 23 Personen sind samt und sonders liebevoll gemachte Nahaufnahmen und stammen von Marcel Studer, Porträtfotograf in Zürich.