Buchhinweis im 
September
 
2010
 

Der Cellist von Sarajewo

Golloway, Steven
Luchterhand Literaturverlag

Am 27. Mai 1992, während der Belagerung von Sarajewo, schlugen nachmittags um vier Uhr mehrere Mörsergranaten in einer Gruppe von Menschen ein, die vor einer Bäckerei auf Brot warteten. 22 Personen wurden getötet und 72 verletzt. Während 22 darauf folgenden Tagen spielte der Cellist, der vor dem Krieg in Sarajewos Philharmonie gespielt hatte, im Krater den die Granate in der Strasse aufgerissen hatte, jeden Nachmittag Albinonis Adagio in g-moll.

Das war der für den englischen Autor Steven Galloway der Anstoss, um dieses Ereignis herum einen Roman zu schreiben. Darin sollte jene unheilvolle Zeit der Belagerung Sarajewos – sie dauerte vom April 1992 bis zum Februar 1996 – beschrieben werden. Während der Belagerung schlugen täglich im Durchschnitt 329 Granaten in der Stadt ein. Sie wurden von den Hügeln rund um Sarajewo abgefeuert.

Die Generäle Karadzic und Mladic, wohl die zwei grössten verantwortlichen Kriegsverbrecher, haben ihre Strafe noch nicht erhalten. Während der erstere in Den Hag vor dem Kriegstribunal steht, hält sich der andere noch immer irgendwo versteckt.

Den Leser, der die Ereignisse der Neunzigerjahre noch in Erinnerung hat, berührt der Roman besonders. Er führt hinein in die Mechanismen des Krieges gegen unschuldige Zivilisten einerseits, und der Heckenschützen auf beiden Seiten anderseits. Man lernt das damalige leidvolle Leben in der Stadt Sarajewo aus nächster Nähe kennen. Es war ein Leben in ständiger Angst, mit all seinen Entbehrungen. Ein Leben, das ganz plötzlich ausgelöscht werden konnte, sobald man sich auf die Strasse begab.

Auf die Strasse musste man sich irgendwie einmal begeben, vor allem, wenn man kein fliessendes Wasser hatte und es in Plastikbehältern bei den Quellen der Brauerei holen musste, wo Granaten jederzeit einfallen konnten.

Der Autor schildert Kenans Weg, eine der Hauptpersonen im Roman, von seinem Stadthaus zur Brauerei und zurück. Eine kleine Kritik am sonst flüssig geschriebenen Roman: Diese Wegbeschreibung des Wasserträgers ist etwas allzu ausführlich geraten und für einen Nichtkenner Sarajewos zu langatmig ausgefallen.

Strijela, die Soldatin und vortreffliche Schützin, schützt den Cellisten, wenn er im Krater spielt, vor einem Heckenschützen, der es auf den Musikanten abgesehen hat. Warum hat dieser an allen 22 Tagen nicht abgedrückt? Hat er es nicht übers Herz gebracht?

Strijela ihrerseits aber behält den Heckenschützen im Visier und tötet ihn schliesslich. Nachher versuchen die Militärs, Strijela für weitere Todeskommandos einzusetzen. Weil sie den Befehl verweigert, gerät sie in die Straf-Maschinerie eines arroganten Kommandanten der Verteidigungsarmee.

Der Cellist – er lebt heute in Amerika – konnte also an den 22 Tagen auftreten, ohne dass ihm etwas passierte. Viele Leute hörten ihm jeden Tag zu und legten Blumen in den von der Granate geöffneten Krater.

Eine fast unwirkliche, doch wahre Geschichte vom Cellisten, der in Sarajewo während 22 Tagen für jeden Gefallenen vor der Bäckerei sein Adagio intoniert hat.

Der Roman ruft einen Krieg in Erinnerung, der mitten in Europa stattgefunden hat. Und bei dem wir anderen Europäer kläglich versagt haben. Die Menschen von Sarajewo haben dieses Versagen noch nicht vergessen.