Buchhinweis im 
Juli
 
2017
 

Ein Mann, der fällt

Suhrkamp

Man legt das Buch nicht ohne Betroffenheit aus der Hand. Der Geschichte vom Mann, der fallt, verfolgt einen über den Tag hinaus. Der Roman spielt auf zwei verschiedenen Ebenen.

Da ist erstens die leidvolle Lebensgeschichte des Mannes, der in Berlin beim Renovieren einer Altwohnung, die er für eine gemeinsame Zukunft mit seiner jungen Frau herrichten will, von der Leiter stürzt und schwer verletzt liegen bleibt. Der schwere Schicksalsschlag verändert alles. Da ist zweitens die Stadt Berlin, die sich im Laufe der Jahre um diese Wohnung herum in gnadenlos atemberaubendem Tempo verändert.

Der Mann bleibt zeitlebens schwer behindert. In ganz kleinen Schritten bringt er es so weit, dass er an Krücken nach langer, langer Zeit wieder gehen kann. Behutsam sucht er seinen Weg auf verschiedenen Pfaden, stets sorgsam begleitet von seiner Frau. Die Existenz des Paares wird zur Erforschung einer immer wieder neuen Welt. Das Leben wird im Laufe der Zeit stetig schneller, während das Paar in der Wohnung bleibt, in der das Unglück passiert ist.

lhre Wohnung wird zu einer Oase, von der aus all die Veränderungen gleichsam aus einer Beobachtungsstation heraus konstatiert werden. Nachbarswohnungen werden umfunktioniert, vergrössert oder umgebaut. Leute, die man in den gegenüberliegenden Wohnungen beobachtet und sozusagen aus der Ferne kennengelernt hat, verschwinden ohne Verabschiedung. Nur das Ehepaar bleibt und lebt sein Leben mit der einzigen Hoffnung, dass nichts Schlimmeres kommt, dass der Mann nie unglücklich fallt, dass stets Hilfe in der Nähe ist und dass man in der Wohnung bleiben kann.

Die Empathie des Lesers ist dem Paar gewiss; die tiefe Emotionalitat wächst stetig, die Weise, wie die Frau den Mann begleitet, ist tief beeindruckend. Das ist der eine Grund, warum die Lektüre anspruchsvoll, aber trotz allem ein trostvolles Erlebnis ist.

Den anderen Teil zu lesen, der einem die Veränderungen in der Grossstadt Berlin vor Augen führt, ist fast erschütternd. Was da aus dem einfachen Stadtteil Charlottenburg im Laufe der Jahre wird:

  • Neonazis schiessen auf einen serbischen Kioskbesitzer;
  • iranische Frauen arbeiten im Widerstandsdienst für ihr Heimatland;
  • Flüchtlinge aus Ex-Jugoslavien und Romas siedeln sich an;
  • Russen kaufen und verkaufen Immobilien.

Roh und gewalttätig wird der Alltag. Der Wohnblock, in dem das Ehepaar wohnt, hat schon mehrere Male den Besitzer gewechselt.

Alles in allem ist es ein fantastisches Werk, ein Roman voll behutsamen Verlasses auf die Liebe, die zwei Menschen ein Leben lang leben. Ulrike Edschede hat einen Roman über eine Zeit geschrieben, die sich stetig verändert. Sie tut das sehr nüchtern und in kühler Reserve gegenüber der Erbarmungslosigkeit, von der das Leben immer wieder allzu voll ist.

Ulrike Edschede lebt selber in Berlin, hat den Jahrgang 1940, studierte Literaturwissenschaft, war Lehrerin und erhielt für ihr literarisches Schaffen schon mehrere Preise.