Buchhinweis im 
Dezember
 
2010
 

Die Liebe der Väter

Thomas Hettche
Kiepenheuer und Witsch

Mit der Lektüre dieses Romans lernt man die Nordsee-Insel Sylt mit ihren Menschen, mit ihren landschaftlichen Schönheiten und ihre geheimnisvolle Stille kennen. Andererseits beeindruckt einen die Wucht des Meers auf poetisch wundersame Weise. Ich selber war noch nie auf Sylt, habe aber nach der Lektüre von Hettches Roman das Gefühl, diese Insel nun trotzdem zu kennen. Die Folge von der Qualität bester Erzählkunst?

Sylt im Winter, mit seiner Sagen- und Geisterwelt, die in der Silvesternacht wach wird, bildet die Kulisse des Leidens eines Vaters, dessen dreizehnjährigeTochter Annika mit ihm Silvester feiert. Die Tochter überfordert ihn aber mit der Frage, weshalb er sich seinerzeit von ihrer Mutter, also von seiner Frau getrennt habe. Absprachen, die das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter betreffen sollten, geraten immer zu Zerreissproben. Anlässlich der Silvesterfeier mit befreundeten Familien gerät alles zum handfesten Drama im Beziehungsnetz zwischen Vater und Tochter.

Die innere Zerrissenheit des Vaters, der sich gerne vermehrt der Probleme seiner Tochter annehmen möchte, ist gewaltig. Er möchte seiner Tochter von sich selber berichten, ihr aus seiner Jugendzeit erzählen; aber er bringt es nicht fertig. Die Schuld sucht er bei seiner Exfrau, die Annika zu sehr an sich bindet. Das wäre so nicht möglich, wenn sie mehr bei ihm sein dürfte, glaubt der Vater.

Der Roman erzählt von der Liebe der Väter zu ihren Kindern, denen sie umständehalber nicht nahe genug sein dürfen oder können; es ist die Erzählung über Probleme, die zu voller Befriedigung aller Beteiligten wohl nie gelöst werden können.

Auf einem Nebenschauplatz des Romans wird berichtet, wie der Vater während dieses Insel-Aufenthalts seiner Jugendfreundin Susanne begegnet. Eine unerfüllte Existenz, in der zu leben dem Vater schwer fällt.

Ein Buch voller drückender Aktualität und von grosser Dichte. Es ist das erste Werk, das ich von Thomas Hettche gelesen habe. Geschrieben hat er zwar schon einiges und ist dafür mit renommierten Buchpreisen geehrt worden.

Thomas Hettche ist 1964 geboren und lebt mit seiner Familie in Berlin und in der Schweiz. Er war während Jahren Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis und ist Herausgeber der literarischen Online Anthologie NULL. Den Lesern der Neuen Zürcher Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist er als Verfasser literarischer Veröffentlichungen bekannt.

Beim Lesen dachte ich stets, das Buch lebe von starken autobiographischen Zügen. Doch er erzähle weder Annikas Geschichte, noch die seine, sagt Hettche in der Einführung. Literatur beginne jenseits dessen, was ist. Er hat mich sehr beeindruckt.