Buchhinweis im 
Oktober
 
2014
 

Die Würde ist antastbar

Ferdinand von Schirach
Essays
Piper-Verlag

Als auf Befehl des amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Afghanistan der Terrorist Bin Laden getötet wurde, sassen Mitglieder der Administration, inklusive Präsident Obama und Aussenministerin Hillary Clinton vor dem Bildschirm und verfolgten die Aktion in Bin Ladens Hauptquartier. Nach erfolgter Tötung des Verbrechers Bin Laden brach im amerikanischen Regierungs-Umfeld Jubel aus.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel liess kurz darauf verlauten, die freue sich über den Tod Bin Ladens. Ihr Sprecher Kauter war darauf gemüssigt, die Worte Merkels ins einigermassen rechte Licht zu rücken: Bin Laden habe doch das Böse per se verkörpert, das überwunden werden müsse und in diesem Sinne wolle die Kanzlerin ihre Aussage auf christliche Weise verstanden wissen.

Ja, darf man einen Menschen töten, auch wenn er Bin Laden ist? Ferdinand von Schirach arbeitet als Strafverteidiger und Schriftsteller in Berlin. Von ihm habe ich schon die Essaybände „Verbrechen“ und „Schuld“ in meiner Sammlung. In seinen Aufsätzen geht es ihm immer darum, aufzuzeigen, dass in Fragen von Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld, Gut und Böse, Täter und Opfer oft der Zufall eine Rolle spielt. An moralischen und ethischen Fragen ist die Gesellschaft immer brennend interessiert bis an den Punkt, wo klar ist, wer Recht hat, oder wer schuldig ist. Die vertiefte Suche nach Gründen, aus welchen Gründen ein Mensch zum Verbrecher, zum Täter oder zum Opfer wird, entfällt meistens. Hier hakt Ferdinand von Schirach ein und fragt nach.

Die Biographie eines Menschen enthält Fakten, die einzeln nicht zu ändern sind. Einzelne Fakten aber sind noch keine Biographie. Fakten sind immer eine Auswahl aus einer Fülle von Fakten. Eine Biographie ist also eine Auswahl von Fakten. Deutung und Bewertung von Fakten finden stets nur an Hand einer Auswahl statt. Wie wäre es, wenn man an Stelle einzelner Fakten deren Auswahl näher anschauen würde? Die Art und Weise, wie eine Biographie jetzt erzählt wird, ist bloss die Bewertung einer Auswahl.

Diese fast theologisch-ethischen Überlegungen spielen in Schirachs Essays eine wichtige Rolle. Es geht immer und Wahrheit und Wirklichkeit. Schirach zeigt diese Spannung am Fall Kachelmann auf, wo der Richter am Schluss, trotz vieler Gutachten und Gegengutachten, nur auf Grund gegenwärtiger Fakten hat urteilen können, die Kachelmanns Freispruch begründeten. Die Frau, die seelisch zugrunde gerichtet worden ist, habe freiwillig das getan, was von ihr verlangt worden sei. Und trotzdem: Kachelmanns moralische Schuld wiege schwer, mein Schirach.

Sein Buch ist eine Ansammlung geistreicher, spannender Fragen, in denen immer wieder hervorscheint, wie die Würde von Menschen eben doch angetastet wird. Ich freute mich auch über den Essay „Reine Menschen- reine Luft. Über Raucher und Nichtraucher“. Darin zeigt Schirach, wie unsere Gesellschaft beim Aufbau einer scheinbar immer moralisch saubereren Welt mehr und mehr Verbote aufstellt. Neben der Stigmatisierung der Raucher werden bald einmal die Dicken keine Süssigkeiten mehr geniessen dürfen. Die Menschen werden uralt werden, weil ihnen nur noch gesunde Dinge zur Verfügung stehen. Sie sollen zu ihrem Glück gezwungen werden; Schwächen kann man dem Menschen austreiben, wenn nötig mit Gesetzen und Verboten. Anfänge sind zu Hauf schon gemacht........

Dem, der zum Beispiel gern ein Glas guten Weines trinkt, wird man vorwerfen, er trinke schädlichen Alkohol. Als ob es sich beim Wein nicht um ein Geschenk der Götter handelte.

Ein richtig spannendes Buch von gut 130 Seiten; es vermittelt viele Impulse zur Hinterfragung scheinbar gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten.