Buchhinweis im 
November
 
2008
 

Erinnerungen, Band 2

Helmut Kohl
Droemer-Verlag

Als ich vor einiger Zeit in einer kleinen Runde erzählte, ich hätte den zweiten Band von Helmut Kohls „Erinnerungen“ gelesen, war die Verwunderung gross. „Helmut Kohl, der frühere deutsche Bundeskanzler? Bist wohl ein verkappter CDU-Sympathisant?“

Mir erging es ähnlich wie dem Taugenichts in Gottfried Kellers gleichnamigem Gedicht. Der Taugenichts, ein kleiner Betteljunge, war „glühend vor Begeisterung“ über die Hyazinthe, die er gefunden hatte. Er erntete damit aber nicht Anerkennung, sondern Prügel. Auch ich mit meinem Helmut Kohl war glühend vor Begeisterung; ich erntete zwar nicht Prügel, dafür fast so etwas wie mitleidiges Erstaunen über meine Lektüre.

Nun zum Buch:
Unglaublich, was Helmut Kohl alles zu erzählen weiss. Schon im ersten Band erlebte ich lesenderweise die Jahre 1930 bis 1982 mit. Fast wie ein Film war’s. Einiges kannte ich noch vom Hörensagen oder vom Radio. Kohls „Erinnerungen“ sind glänzende Lektionen im Fach Weltgeschichte. Fast kein Land, das er als Repräsentant Deutschlands (mit seiner speziellen jüngeren Geschichte) nicht besucht hätte. Im zweiten Band beschreibt er die ersten acht Jahre seiner Kanzlerschaft, von der Ablösung der Regierung von Helmut Schmidt bis zum Fall der Berliner Mauer. Was in diesen Jahren alles passierte, ist Weltgeschichte geworden. Da waren noch die Empfindlichkeiten zwischen den damaligen beiden deutschen Staaten. In Kohls Werk lernt man viele ehemalige Staatslenker wie Mitterand, Gorbatschow, Margret Thatcher, und viele andere, von einer neuen Seite kennen.

Helmut Kohl tritt überzeugend für Werte wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit ein. Die Ehrfurcht vor dem Leben – geboren oder ungeboren - gehört zu seinem ethischen Credo.

Die Lektüre der Erinnerungen Helmut Kohls erachte ich als das Privileg. Ich darf einen Mann, der viel bewegt hat, aus der Nähe beobachten und ihm zuhören. Regieren heisst für ihn: Ziele verfolgen, Richtungen festlegen, Wege weisen. Die Seiten sind voll der Rede von grosser Regierungskunst. Helmut Kohls Schreibstil ist einfach, klar und sprachlich lupenrein. Es gibt sie auch, die wenigen Passagen, die etwas langatmig geraten sind, aber das sind Kleinigkeiten auf wenigen Seiten.

Mein Leseprinzip ist der folgende: Ich lese alles, lasse nichts aus, überspringe keine Seite. Und wenn ich mich einmal für das Lesen eines Buches entschieden habe, lese ich es zu Ende, komme, was wolle.

Der einzige Nachteil des stattlichen, über 1'100 Seiten umfassenden, mit vielen Fotos versehenen Bandes ist für mich, der gerne liegenderweise liest, sein Gewicht.

Ob Kohl denn immer objektiv bleibe, wird man mich fragen. Ich frage zurück: was heisst denn objektiv? Jedenfalls bin ich gespannt auf den dritten Band, in dem es um die zweite Hälfte seiner 16jährigen Kanzlerschaft, um die Wiedervereinigung, um die Partei-Spendengeld-Affäre, um den Verlust der Regierungsmacht und um die Zeit danach gehen wird.