Buchhinweis im 
Juni
 
2015
 

Lebensstufen

Julian Barnes
Kiepenheuer und Witsch

Julian Barnes ist ein britischer Schriftsteller mit Jahrgang 1946, der mit “Lebensstufen“ ein eigenartiges, aussergewöhnliches Buch geschrieben hat. Warum aussergewöhnlich? Es besteht aus drei Teilen. In den ersten zwei Teilen wird über Ballonfahrten und über Photographie geschrieben. Im dritten Teil beschreibt er auf anrührende Weise, wie er den Tod seiner Frau erlebt hat und wie er jetzt versucht, mit diesem Erlebnis fertig zu werden.

Wie die drei Teile innerlich zusammenhängen, ist mir als Leser zuerst nicht klargeworden. In der nach der Lektüre anschliessenden Reflektion wurden mir mehr und mehr, in immer kleineren Schritten gewisse Zusammenhänge klar. Die ersten beiden Teile sind wie Bildmaterial aus den Anfängen wagemutiger Ballonfahrten und von Pionieren der Fotografie in ihren Anfängen und der Liebe zweier Menschen. Sie sind wie eine Art Hinführung, die Barnes braucht, um im dritten Teil wirklich über den Verlust seiner Frau schreiben zu können. Tatsächlich hat Barnes vier Jahre gebraucht, um über das schreckliche Ereignis vom Tod seiner Frau zu schreiben. Die Zeit von der Krebsdiagnose bis zum Tod seiner Frau betrug 37 Tage. Lang Jahre schon waren sie ein Paar gewesen.

Es war für mich, der den Tod der Gattin ebenso als schreckliches Ereignis in Erinnerung hat, zu erfahren, was und wie Barnes darüber schreibt. Daher mein Focus auf den dritten Teil des Buches. Wie die ersten beiden artistischen Teile, die von Aufstiegen und Abstürzen handeln, zum dritten sich verhalten, darüber lasse ich gerne Literaturgelehrte sinnieren.

Ein tiefes Buch. Ein Stück eigenes Leben wird mit einer Sprache zu etwas Anderem gemacht. Es ist unbarmherzig mit sich selbst, hat Tiefe, spart kein Thema aus. Es ist das schonungslose Buch über die Thematik des Lebens. Weshalb lebe ich? Die Erinnerung an seine Frau lässt ihn leben. Wer so etwas erlebt hat, dem ist dieses Buch kostbar, eine Perle von einem Kunstwerk. Ohne die zwei ersten Teile wäre der dritte eine Totenklage. So ist es eine Art Überlebenshilfe, von einem geschrieben, der plötzlich allein in der Welt steht.

Und immer wieder der Gedanke vom „Universum, das einfach seine Arbeit macht“. An sich ein trostloser, lapidarer Satz, der einem vom Leid Getroffenen nicht weiterhilft. Obwohl er richtig ist und genau das sagt, was für jedes Lebewesen gilt.

Als einem, der von diesem Unabänderlichen betroffen worden ist, kommen mir viele Aussagen bekannt vor. Angefangen bei den vielen guten Absichten, Trost zu spenden bis hin zu Versuchen, einem Trauernden mit floskelhaften Sprüchen über die Runden zu helfen. Eine der schwierigsten Antworten ist die auf die Frage: „Wie geht es?“ Da kann ich nicht umhin, dann und wann zurück zu fragen: „Was möchtest du wissen?“. Das Wort von Trauerarbeit sei glitschig, flüssig und metaphorisch, sagt Barnes an einer Stelle. Denn das Leid lasse sich nicht hetzen.

Ein Zitat zum Schluss:
„Diejenigen, die den Wendekreis des Leids noch nicht überschritten haben, können es oft nicht verstehen: Wenn jemand tot ist, dann heisst das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heisst nicht, dass es ihn nicht mehr gibt.“