Buchhinweis im 
Februar
 
2010
 

Nächste Woche vielleicht

Alberto Nessi
Limmat-Verlag

Alberto Nessi ist ein zeitgenössischer Schriftsteller aus der italienischen Schweiz, fast bin ich geneigt, zu sagen, er sei für mich der Schriftsteller des Tessins. Einioge seiner Werke stehen in meinem Büchergestell. Nessi schreibt vom Tessin. Er ist Tessiner, 1940 in Chiasso geboren. Später wurde er Lehrer und unterrichtete im Tessin. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bruzella im Valle Muggio. Er hat das fast unbegrenzte Wachstum im Tessin der letzten Jahrzehnte miterlebt. In seinen Werken erinnert er gerne an die Zeiten, als alles noch sehr einfach war, und die Armut in den Tälern allgegenwärtig.

„Nächste Woche vielleicht“ handelt von einem Buben von zuhinterst im Valle Muggio, der früh seinen Vater verlor und den es mit 12 Jahren mit seiner Mutter, einer geborene Portugiesin, und mit zwei Schwestern nach La Chaux-de-Fonds verschlug. Hier starben seine Mama und eine Schwester. Er wurde Uhrmacherlehrling. Die Uhrmacherlöhne waren tief. So wanderte er aus in die Hauptstadt des Landes, aus der seine Mutter stammte, nach Lissabon. Es waren die Jahre 1850/1860, als politisch viel passierte und die Bewegung um die Rechte der einfachen Arbeiter entstand, genährt durch die „Blumen der Revolution“ der europäischen Arbeiterführer.

In Lissabon konnte er die Buchhandlung Bertrand eines Onkels übernehmen und hatte so Gelegenheit, sich die Ideen des portugiesischen Sozialismus zu verinnerlichen. Seine Buchhandlung sei die älteste der Stadt; tagsüber bediene er die Kunden, sitze am Schreibtisch, arbeite im Lager. Aber der Abend gehöre der Politik, schreibt er nach Hause. Die Freundschaft mit Eça, einem sozialistischen Schriftsteller, war ihm heilig. Jeden seiner Artikel schneide er aus; vor sich habe er einen Satz liegen, der ihm wichtig sei und laute: „Jeder Fuss möchte Flügel sein“.

„Nächste Woche vielleicht“ ist keine einfache Lektüre. Sie fordert heraus. Trotzdem: Nessis Werke sind – das ist auch hier einmal mehr der Fall – von positiver Grundstimmung. Ein Buch, das tatsächlich Flügel gibt. Was einem nahe geht: das Schicksal der schwer arbeitenden Frauen im Tessin wie in Lissabon, und die Kinderarbeit in den Fabriken. Fein gesponnene Liebesgeschichten zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern geben den Geschichten trotz allem Elend etwas bereichernd Menschliches.

Von der Auswanderung aus dem Tessin, über das Leben in Le Locle bis hin in die Buchhandlung in Lissabon ist alles wie ein wundersamer, mit Liebe gestalteter Film. Das Buch lädt ein, sich mit den schweren Schicksalen jener Zeit zu befassen. Vielleicht regt es an, dem Valle Muggio, von wo der Knabe Giuseppe und spätere José stammte, einmal einen Besuch zu machen; denn von hier aus führt Nessi seine historische Figur durch die Höhen und Tiefen eines spannungsreichen Lebens.

Es ist ein beeindruckendes Buch, das einem eine neue historische Welt auftut. Gerade das macht die Lektüre dieses hoch poetischen Buches des Tessiner Zeitgenossen so wunderbar. Am Lesevergnügen hat die bestbekannte Übersetzerin Maya Pflug einen wichtigen Anteil. Solch sprachlich kunstvolle Übersetzungen sind nicht hoch genug zu preisen.