Gedanken zur Zeit im 
September
 
2011
 

Eine neue Geschichte vom Kannitverstan

Nun bauen sie seit bald zwei Jahren an einem Gebäude; es soll ein Sozial- und Altersheim werden. Grössenordnung: ungefähr wie ein dreistöckiger 12-Familienblock. Ich konnte die Arbeiten von ferne verfolgen; denn der Bau liegt in meiner Blickrichtung talabwärts. Er ist so langsam hochgezogen worden, dass ich mich dann und wann fragte, ob den Bauherren vielleicht das Geld ausgegangen sei.

Aber immer wurde gebaut. Mit dem höher werdenden Bau wuchs auch das Gerüst. Das Dach kam dran, und eines Tages montierten die Spengler in der Sonne glänzende kupferne Dachrinnen und Abläufe. Die Fenster wurden eingesetzt. Das Haus erhielt eine ansprechend schöne, harmonisch in die Landschaft passende Farbe. Und jetzt erst fingen sie an, das Gerüst abzubauen. Das alles mit dem für unsere Freiämter Verhältnisse lächerlich kleinen, kurzarmigen grauen Kran.

Der Leser merkt, dass meine Schilderung nicht auf Schweizer Verhältnisse zutrifft. So ist’s; ich schreibe aus dem Argentina-Tal der Nervia in Ligurien.

Früher hiess es auch bei uns, ein Neubau müsse über den Winter austrocknen können. Das alles gilt nicht mehr; man hat einen Beton, der das Austrocknen nicht mehr nötig hat. Also geht alles sehr rasant. Es gibt Ortschaften, da werden Wohnblocks grad im Dutzend aufgestellt. Zuoberst die teuerste, Attika, mit riesiger Terrasse zum Federballspielen. Daher der Kran mit seinem riesigem Ausleger.

Was heisst schon der Kran?

In meinem Dorf grassiert die Kranitis, eine neue, gefährliche Gesellschafts-Krankheit. Gut 10 Krane mit riesigen Auslegern stehen im Dorf herum. Sie alle werden der bisherigen Einwohnerschaft in der bald kommenden Adventszeit mit einem stimmungsvollen elektrisch beleuchteten Stern „frohe“ Weihnachten wünschen.

Ich selber kann nicht froh werden, wenn ich sehe, wie da überall mit Hektik gebaut wird und wie letzte Grünflächen im Schnellzugstempo überbaut werden. Wer steckt hinter all dem, und wer bezahlt das alles? Die Geschichte vom Kannitverstan von Johann Peter Hebel kommt mir in den Sinn. Man lese diese alte Lesebuch-
geschichte wieder einmal. (In heutigen Lesebüchern wird sie wohl kaum mehr stehen; sicher findet man sie dafür im Internet; googeln lohnt sich!).
Die genannte Geschichte vom Kannitverstan handelt von einem Handwerksburschen. Er ist durch ein sprachliches Missverständnis zur wichtigen Erkenntnis gelangt, dass niemand, auch kein Reicher, im Tod etwas mitnehmen kann.

Sicher würde Johann Peter Hebel heute eine etwas andere Geschichte schreiben. Vielleicht eine Geschichte von Leuten, die Land besitzen und sich überlegen, wie sie es mit Goldtalern belegen können. Viele dieser Landbesitzer wissen selber zwar nicht so recht, warum sie so reich sind. An ihrem Reichsein sind  sie mitnichten selber schuld. Alles ist eben so gekommen, wie es ist.

Vielleicht schriebe Johann Peter Hebel eine Geschichte von einem Teil von Leuten, die es durch ihrer Hände Arbeit zu Reichtum gebracht haben und von anderen, denen der Reichtum in den Schoss gefallen ist und weiter in den Schoss fällt. Am Schluss schriebe er wieder von der Erkenntnis, dass auch der Reiche einst sein Ende haben wird und „davon muss“.

Die Landüberbauer, die das Zeitliche ebenso segnen mussten wie die Gewöhnlichen, hinterlassen der Nachwelt nebst ihren Bau-Denkmälern aber sehr wahrscheinlich mehrere schwierige Probleme.

Doch das wäre eine andere, neue Geschichte.