Gedanken zur Zeit im 
September
 
2013
 

Gedichte

Ältere Leserinnen und Leser werden sich mehr oder weniger gern an Gedichte aus der Schulzeit erinnern. Ein ehernes Gesetz schien das Auswendiglernen von Gedichten zu sein. Für einzelne Schüler eine Qual; man musste ein Gedicht auswendig aufsagen können. Wer es nicht schaffte, hatte einfach zu wenig gelernt. So einfach war das.

Und trotzdem: Ich bin froh, einige Gedichte auswendig hersagen zu können. Das setzt voraus, dass ich es mir inwendig zu eigen gemacht habe. Noch heute versuche ich, Gedichte auswendig zu lernen. Ich stelle zwar fest, dass es mir zunehmend Mühe bereitet, einen Text im Kopf zu behalten.

Grossen Eindruck machte mir vor einiger Zeit Frau Emma Meyer aus Hilfikon mit ihren über 90 Jahren, als sie lange Gedichte ohne irgendwelchen Aussetzer aufsagen konnte. Darunter waren „Es stand in alten Zeit ein Schloss so hoch und hehr......“ und viele andere, teils lange Balladen. In Hilfikon war Emma Meyer noch in einer Zeit zur Schule gegangen, wo die Schüler in den Wintermonaten, bis der Tag hell war, am Morgen Kopfrechnen übten, sich an Erzählungen freuen durften oder Gedichte im Chor auswendig lernten.

Die damalige Schulpraxis will ich unter keinen Umständen verherrlichen. Anzumerken erlaube ich mir allerdings, dass das Gedächtnis heute ganz allgemein, nicht nur in der Schule, zu wenig trainiert wird. Das ist aber eine andere Geschichte.

Noch heute wird bei Gedichten gefragt: „Was will der Dichter damit sagen?“ Als ob in Gedichten Rätsel oder irgendwelche Geheimnisse versteckt wären. Ich liebe Gedichte, die nicht eine bestimmte Bedeutung haben. Ein Gedicht öffnet seine Schönheit durch die Sprache, ein anderes durch seine Stimmung, manche evozieren flüchtige Gedanken.  Gerne lese ich Gedichte einfach zum Vergnügen. Irgendwo bleibe ich hängen und geniesse die Bilder, die im inneren Auge entstehen. Wenn ich, als Beispiel, ein Gedichtbändchen von Mascha Kaleko zur Hand nehme, lege ich es so schnell nicht wieder weg.

Sehr gern lese ich Mundart-Gedichte. Oft scheinen da Wörter und Ausdrücke auf, die wie Tautropfen in der Morgensonne leuchten. Eine besondere Liebe hege ich für die Sprache des Solothurner Mundartdichters Ernst Burren. Die poetischen Erzählungen in seinem letzten Buch „De Troum vo Paris“ lese ich immer wieder mit grossem Vergnügen. Schön, sich Gedichten zu überlassen. Bei solcher Lektüre bin ich nicht gezwungen, zu handeln. Gute Texte handeln an mir selber. Lesend tun sich mir Räume auf, und ich lerne ein Stück Welt kennen. Alltägliches kann auf einmal Sinn bekommen.

Eigentlich liebe ich alle Sprache, die irgendwie gestaltet ist. Das können auch „nur“ Geburtstagsgedichte oder Schnitzelbankverse sein. Auch da transportiert gestaltete Sprache Gedanken nach aussen, in hörende Menschen. So gesehen sind auch Sinnsprüche oder Sprichwörter kleine Gedichte. Durch ihre meist knappe Form bleiben sie im Sinn haften und bleiben meist ein Leben lang treue Gefährten.

Und: Gibt es nicht immer wieder die heimlichen Gedichteschreiber, die auf dieser Website jederzeit willkommen wären, würden sie denn nur den Mut haben, sich zu äussern? Jedes Gedicht, und sei es noch so einfach, ist gestaltete Sprache und somit ein wundersames Ding. Oder etwa nicht?