Gedanken zur Zeit im 
Juni
 
2013
 

Ligurien

Ein Ankommen in Dolceacqua bietet mir jedes Mal Neues. Nie kann ich sagen, ich würde schon alles kennen. Es ist eine andere, neue Welt, und nicht eine touristische Entdeckung, sondern eine liebevolle Hinwendung zu Vielem, was mir das Leben zu Hause nicht gibt. Was ist es denn? Es ist die gewisse Einfachheit eines Lebens im Gemäuer, errichtet in alten Zeiten, mit anderen Mitteln und Materialien.

Es ist die einfache Lebensweise, die auf gewisse Weise mit viel weniger Strukturen auskommt als unsere deutschschweizerischen Gepflogenheiten. Hier ist alles etwas einfacher, plakativer; selbst die Natur beschränkt  sich auf klare Bilder: die Hänge sind terrassiert, damit Oliven und Reben wachsen können; die Terrassen boten früher auch Platz für Gemüsegärtchen. Eine Landwirtschaft in unserem Sinn oder Industriebauten fehlen hier. Ich habe noch nie eine Kuh gesehen. Für die einheimischen Käsesorten werden Ziegen-oder Schafmilch verwendet. Schöne Wälder sind mit breiten Pinien besetzt. Jetzt, im Juni, leuchtet das Gelb des Ginsters aus dem satten Grün der Wälder.
 
Ich denke oft darüber nach, wie die Menschen hier, im Hinterland des Mittelmeeres, früher  ihr Leben gelebt haben. Sicher mit viel Gottvertrauen. Es wird sie schon damals gegeben haben, die Leute, die aufeinander angewiesen waren, die einander geliebt und Kinder grossgezogen haben. Es waren Menschen, die hier ihre Leidenschaften für Gutes und Schönes ausgelebt und gekostet haben. Immer wieder aber wurde Ligurien in seiner Vergangenheit von fremden Mächten mit Krieg überzogen.

Mit dem Aufkommen des Tourismus war für einige wenige Leute aus den Bergtälern etwas Geld zu verdienen. Von weit hinten gingen junge Leute in langen Tagesmärschen ans Meer in der aufkommenden Hotellerie arbeiten; mit dem Einbruch des Winters machten sie sich mit dem Wenigen, das sie verdient hatten, auf den Rückweg zu ihren Lieben nach Hause.

Sie haben es verstanden, aus dem, was die Natur hervorbringt, viel zu machen.
Die Gegend hier war früher „Costa dei Fiori“ (Blumenküste) genannt. Von hier aus wurde Europa mit Blumen versorgt. Heute werden die Blumen auf dem Luftweg aus China oder Afrika nach Europa eingeflogen; Ligurien kann nicht mehr mithalten. Blumen werden zwar noch angebaut, doch das Geschäft ist eingebrochen; geblieben sind viele leere Gewächshäuser, die an die einstige Bedeutung des Blumenhandels erinnern.

Es hat auch hier Leute gegeben, die Gedichte geschrieben, Geschichten erzählt, Lieder gesungen und Musik gemacht haben. Die hiesige Volksmusik ist von ganz besonderer, melancholischer Schönheit. Ich bin sicher, dass die Leute im Herzen ebenso reich waren wie wir es heute sind. Man muss unter dem noch nicht lichtverschmutzten Nachthimmel nur mal die Augen schliessen und sich das das Leben am Mittelmeer im wunderschönen Ligurien ohne moderne Kommunikationsmittel vorstellen.

Einerseits müssen das schöne Zeiten gewesen sein, andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass Krankheiten, Seuchen, Unglück, Katastrophen und der Tod ein zeitweise unerbittliches Regiment geführt haben.

Ist das nicht ganz kleines Stück europäischer Geschichte?