Buchhinweis im 
Mai
 
2011
 

Letzte Nacht am Twisted River

John Irving
Diogenes-Verlag

Ein grossartiges Gemälde über das Leben der Flösser in den Wäldern um New Hampshire. Naturbeschreibungen, wie ich sie gerne lese: gründlich, akribisch gestaltet in den Detalis, nimmermüde so gezeichnet, dass alles anschaulich und präsent wird. Das ist die hohe Kunst, die John Irving auszeichnet. Seine andere ist es, zu erzählen, erzählen, erzählen. Ich glaube, der Mann setzt sich hin, und dann erzählt es von selber von alten Geistergeschichten, von wahren Begebenheiten, von Unglück und Tragödien, von Schlechtigkeiten der Menschen, auch von unverbrüchlicher Treue, von Freundschaften und von Liebe.

Irving lesen heisst, an einem Feuerwerk überfliessend dichter Erzählkunst Teil zu haben.

Das Buch beschreibt die Odyssee des Kochs Dominic mit seinem Sohn Danny durch halb Amerika, auf der Flucht vor der Rache eines Sheriffs. Tragische Verwechslungen führen zu diversen dramatischen Ereignissen: Als Zwölfjähriger hatte Danny die Geliebte des Sheriffs wegen der Verwechslung mit einem Bären im Dunkeln mit einer Bratpfanne erschlagen. Die Rache des Sheriffs verfolgt den Vater und den Sohn von New Hampshire über Bosten, Vermont, Iowa bis nach Kanada. Nach jeder Flucht war Dominic gezwungen, für sich und seinen Sohn Danny mit der Eröffnung einer italienischen Pizzeria eine neue Existenz aufzubauen.

Der Sohn Danny wird ein berühmter Schriftsteller. Interessant, wie Irving die Arbeitsweise dieses Danny mehrere Male beschreibt. Nicht nur ein wenig Autobiographie? Irving scheut kritische Bemerkungen und happige Vorwürfe an die Adresse des letzten US-Präsidenten Bush nicht.

Wer den Atem hat, möge diesen Roman des amerikanischen Erfolgsautors, der schon allein im Diogenes-Verlag 15 Titel im Verzeichnis hat, lesen. Es soll Leute geben, die Irving süchtig macht. Mir ist es anfangs keineswegs so ergangen. Ich kann über das Buch nur deswegen schreiben, weil ich stur an meinem Prinzip fest hielt, ein einmal angefangenes Buch in keinem Fall ungelesen wegzulegen. Mich ekelten die derben Sprüche der einen Hauptperson namens Ketchum. So kann man es doch nicht sagen, meinte ich. Die Schuld wies ich dem Übersetzer Hans M. Herzog zu  und verdächtigte ihn, keine besseren Einfälle gehabt zu haben.

Im Gespräch mit einem Kenner der Materie aber wurde ich dahin gehend belehrt, dass Übersetzer oft bedauernswerte Kreaturen sind. Die Verleger verlangen, dass Übersetzungen möglichst schnell nach dem Erscheinen des Originaltextes vorliegen müssen; aus geschäftlichen Gründen. Hinzu komme, dass im Amerikanischen eine unvergleichlich grössere Vielfalt an hartem sprachlichem Ausdruck existiert als im Deutschen. Zudem werde von den Autoren möglichst wortgetreue Übersetzung verlangt.

Wie dem auch sei, ich habe die über 700 Seiten in 20 Stunden gelesen. Bei dem leserfreundlichen Druck des Diogenes-Verlages brauchte ich für 35 Seiten im Schnitt eine Stunde. Beim Beginn einer neuen Lektüre rechne ich mir nämlich immer aus  wie lange sie dauern wird. Eine meiner Marotten!