Buchhinweis im 
März
 
2017
 

Der Lärm der Zeit

Julian Barnes
Kiepenheuer und Witsch

Das Buch handelt vom russischen Musiker Dimitri Schostakowitsch, (1906-1975) einem der bedeutendsten Komponisten des letzten Jahrhunderts. Es ist aber nicht eine eigentliche Biographie von einem russischen Künstler, der sein ganzes Leben unter der sowjetischen Herrschaft verbracht hat. Es geht um die Umstände, unter denen der Komponist zu leben und zu arbeiten hatte, zuerst unter Stalin, dann unter Chruschtschow. Erzählt wird das Ganze in drei Abschnitten, die je zwölf Jahre auseinanderliegen.

Im ersten Teil werden die Umstände und die Erfahrung mit dem Tyrannen Stalin geschildert. Da steht ein Mann jede Nacht mit seinem Köfferchen, in dem er das Nötigste verstaut hat, im Korridor eines Mehrfamilienhauses im fünften Stock beim Lift. Er wartet, dass er von Stalins Schergen abgeholt wird, denn die kommen immer in der Nacht. Die Schmach und den Schmerz des Abgeholtwerdens will er den Angehörigen in seiner Wohnung ersparen. Deshalb das Warten beim Lift, manchmal das Warten in den Kleidern im Bett. Warum die Angst?

Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, viele Male erfolgreich aufgeführt in der Sowjetunion und auch im Ausland, hatte Stalins Missfallen erregt. Dieser, sich stets als Musikkenner gebend, verlässt die Aufführung. Fortan ist Schostakowitsch einer von denen, die sich schuldig machen, weil sie so genannte „entartete Kunst“ produzieren. Schostakowitsch fällt in Ungnade und wird schon mal vorgeladen. Einer seiner Mitstreiter ist bereits erschossen worden. Entartete Kulturschaffende hatten unter Stalin mit hohen Strafen, Verbannung oder mit dem Tod zu rechnen. Noch passiert nichts, und Schostakowitsch komponiert nur noch Musik, die für das Regime akzeptabel, aber künstlerisch trotzdem auf hoher Stufe steht.

Im zweiten Teil, zwölf Jahre später, erhält Schostakowitsch von Stalin persönlich einen Telefonanruf. Dieser verpflichtet ihn zum Besuch eines Friedenskongresses in New York, an dem er die Meinung der sowjetischen Regierung über Kultur und Frieden vertreten soll. Vorverfasste Statements hat er zu verlesen und die Praxis der Durchführung notwendiger Säuberungen in seiner Heimat zu rechtfertigen. Sogar die Musik seines in der freien Welt berühmtem Komponistenkollegen Igor Strawinsky lehnt er jetzt als entartet ab; ein innerlicher Verrat, der ihm sehr zu schaffen macht. Selbstverständlich stand Schostakowitsch unter strenger Beobachtung und Kontrolle der in der Delegation vertretenen russischen Spitzel.

1960 begann das Kapitel unter Stalins Nachfolger Chruschtschow. Die Schreckensherrschaft Stalins war soweit vorbei; aber auf eine hinterhältige Weise wurde Schostakowitsch drangsaliert, indem er der Partei beitreten und das Amt des Sekretärs des staatstreuen Komponistenverbandes annehmen musste. Die Lebensgefahr nimmt ab, aber die Verstrickung mit dem Regime, das Gefühl des Versagens und der Schande werden zum Albtraum. Schostakowitsch wählte den Weg der inneren Emigration, hat aber ein vielfältiges kompositorisches Werk hinterlassen und zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Die Vorwürfe, entartete Musik zu schreiben, schloss übrigens auch Komponisten wie Sergej Prokofjew und Aram Chatschaturjan ein. Auf Auslandsreisen, zu denen er als Repräsentant sowjetischer Musik von offizieller Seite gezwungen wurde, erweckte er den Eindruck der Regimetreue; seine wahren Gefühle aber vertraute er in geheimnisvoller Weise seinen Kompositionen an, von denen viele erst nach Stalins Tod aufgeführt werden konnten.

Julian Barnes (*1946), der Autor, hat als grossartiger Erzähler schon zahlreiche internationale Literaturpreise erhalten; die exzellente Übersetzung von Gertraude Krüger trägt das ihre dazu bei, dass man das Buch vom „Lärm der Zeit“ mit Vergnügen liest. Es ist ein tolles Buch; ich legte es mit nachdenklich aus der Hand, aber mit viel Gewinn an Informationen über eine Zeit, die ich selber erlebt habe, aber so intensiv erst mit dieser Lektüre wahrnehmen konnte.