Buchhinweis im 
Januar
 
2016
 

Ausnahmezustand

Navid Kermani
Verlag C.H. Beck

Navid Kermani hat sozusagen alle Orte besucht, in denen der Krieg unsägliches Leid und Verwüstungen der Menschenseelen hinterlässt. Er berichtet von seinen eindrücklichen Erlebnissen in Afghanistan, Pakistan, Teheran, Bagdad, Kurdistan, Syrien, Palästina und Lampedusa. Für sein Buch „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ hat Navid Kermani den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels des Jahres 2015 erhalten.

Der Autor lebt als Orientalist in Köln und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In seiner vielbeachteten Dankesrede sagte er unter unter anderem:

„Der Krieg gegen den Islamischen Staat“ kann nicht mehr allein in Syrien oder im Irak beendet werden. Er kann nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen. Erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen. Den grössten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des IS und den des Assad-Regimes“.

Die Faszination von Kermanis Texten ist die Unmittelbarkeit: Als Leser ist man sofort Beobachter des Geschehens, man erlebt Stimmungen in Städten, Dörfern, inmitten von Ruinen. Schicksale von Menschen werden lebendig und gewinnen auf einmal weltpolitische Dimension. Die Geschichten aus dem Alltag der Menschen in den Krisengebieten nehmen den neugierigen Leser mit und eröffnen ihm eine Sicht auf unsägliches Leid. Er leidet und fiebert mit. Oft ergreift den Leser die Wut ob der Frage des „Warum das alles?“  Allerdings lernt man auch den Aufruhr in all den Ländern verstehen, in denen Menschen seit undenklichen Zeiten noch nie Befreiung erlebt haben.

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erzählt er, der Muslim, von Pater Jaques, der ihm in einem Mail schrieb:

„Soeben komme ich aus Aleppo zurück“, fuhr Pater Jacques in der Email fort, die er wenige Tage vor seiner Entführung am 21. Mai schrieb, „dieser Stadt, die am Fluss des Stolzes schläft, die im Zentrum des Orients liegt. Sie ist jetzt wie eine Frau, die von Krebs aufgefressen ist. Alle fliehen aus Aleppo, vor allem die armen Christen. Dabei treffen diese Massaker nicht nur die Christen, sondern das gesamte syrische Volk. Unsere Bestimmung ist schwer umzusetzen, vor allem in diesen Tagen, an denen Pater Paolo verschwunden ist, der Lehrer und Begründer des Dialogs im 21. Jahrhundert. In diesen Tagen leben wir den Dialog als ein gemeinschaftliches, gemeinsames Leiden. Wir sind traurig in dieser ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt hungers stirbt und an Krankheiten und am Krieg. Es scheint, dass ihr einziges Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können. Wie rechtfertigen sich die Regierungen, die die Massaker beenden könnten?

Kermanis Werk unterscheidet sich wesentlich von Berichten aus der Tagesschau, wo in den meisten Fällen Vorbereitungen für die Aufnahmewagen vonnöten sind; die Bilder werden für die Ausstrahlung präpariert. Kermani, der von vielen Brandherden aus eigenem Erleben erzählt, ist unmittelbarer; seine Bilder, die er dem Leser erzählend zeigt, sind im eigentlichen Sinne des Wortes nachhaltig. Man legt das Buch bereichert aus der Hand.

In einer eindrücklichen Lesung im Zurzacher Verena-Münster haben Roswitha Schilling und Hans-Rudolf Twerenbold Passagen aus Kermanis Frankfurter Rede gelesen. Der Organist Rudolf Lutz spielte dazu Orgel-Improvisationen.