Buchhinweis im 
Mai
 
2013
 

Mittelreich

Josef Bierbichler
Suhrkamp 2011

Der Roman spielt an einem See. Die Hauptperson ist Pankraz, der Seewirt, wie er genannt wird. Ein gottesfürchtiger Mann, der das väterliche Erbe der Seewirtschaft gezwungenermassen hat übernehmen müssen, weil sein älterer Bruder im Ersten Weltkrieg umgekommen ist. Der Seewirt wird im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht eingezogen und trägt an seinen Kriegserinnerungen eine schwere Last mit sich herum.

Später wurde dieser Pankraz Erbe des väterlichen Hofes und der Seewirtschaft; zusammen mit zwei Schwestern und mit seiner Frau brachten sie es zu mittelmässigem Wohlstand, wurden also „mittelreich“. So verstehe ich jedenfalls den Titel des Romans.

Die Frau Seewirtin musste unter den zwei Schwestern des Chefs einiges an Zurücksetzung und Verachtung erdulden. Der Sohn Semi wollte nicht in die Fussstapfen seiner Eltern treten und wurde Rebell und Kommunist. Er litt unter einem verfluchten Zwang und wollte nicht Knecht werden. Er hasste das Haus und den ganzen Heimatkram, wollte heraus aus der Enge und allem, was er musste.

Hier scheint aus dem Roman ein Stück von Josef Bierbichlers Autobiographie heraus, wie ich meine. 1948 geboren, ist aus ihm ist ein Schauspieler geworden, der in vielen Filmen und Theatern in wichtigen Rollen zu sehen war und weiter zu sehen sein wird.

Der Roman widerspiegelt ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte: Äusserlich zu erleben an der Entwicklung des Tourismus in der Seelandschaft, innerlich gezeichnet an den Personen und Charakteren. Für den Seewirt ist alles anders gekommen, und er selber  muss zusehen, wie sich die Veränderung in seinen Kindern manifestiert. Diesen Prozess hält er nur schwer aus. „Die eigene, verlorene Jugend im Leben seiner Kinder zu erkennen, ist unerträglich, obwohl es folgerichtig ist“, bekennt er in einem Gespräch mit seiner Frau.

Ein sehr spannungsreicher Roman, der einesteils sehr schöne Einblicke gibt ins Leben der Landleute am See, andererseits aber, für meine Begriffe, etwas an der Schwere von Altlasten leidet. Dies ist bei den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg (Pankraz war in des Führers Russlandfeldzug dabei) für den Leser schon etwas bedrückend.

Hinzu kommen die Geschichten aus der Zeit der sexuellen Verbrechen an Jugendlichen durch Geistliche, die der Sohn Semi hat erleiden müssen  Die Beschreibung der Zustände, die auf diesem Gebiet herrschten, grenzt fast ans Unerträgliche.

„In der Mönchsfalle, im Bockstall der Hochgeistlichkeit mit ihrer stinkenden Fleischlichkeit“ befand er sich gezwungenermaßen, weil der Vater unbedingt wollte, dass er eine Internatsschule besuchte.

Die Schilderung der pubertären Entwicklung der Kinder,
der grobe Umgang Erwachsener miteinander,
die Intrigen im Dorf,
der Alkoholmissbrauch in den Wirtschaften,
das einfache Landleben und
die wunderschönen Bilder aus der Natur, sowie
die Berichte über Unglück und Katastrophen
machen den Roman zum spannenden Lesevergnügen.

Ich legte ihn aus den Händen mit vielen Einsichten in die bayrische Lebensart und voller eindrücklicher Erinnerungen an Freud und Leid der Seewirts-Familien über ein ganzes Jahrhundert.