Buchhinweis im 
Februar
 
2016
 

Weit über das Land

Peter Stamm
S. Fischer

Der Roman handelt von der Ur-Szene des neu Anfangens. Thomas ist mit seiner Frau Astrid und den beiden Kindern eben aus den Ferien nach Hause gekommen; für die Kinder beginnt die Schule wieder. Nachdem er mit seiner Frau draussen noch ein Glas Wein getrunken hatte, geht er weg, während Astrid zu den Kindern schaute. Sie bleibt mit den Kindern allein zurück. Thomas und Astrid sind die Hauptfiguren. Über ihr Innenleben wird der Leser nicht näher ins Bild gesetzt.

Auf dieser Konstellation hat Peter Stamm ein beeindruckendes Kunstwerk geschaffen. Die schnörkellose protokollarische Sprache und die vielen stimmungsvollen Naturbeschreibungen sind von erster Güte. Dabei bleibt man als Leser immer in der Schwebe, wie alles ein Ende nehmen könnte. Gekonnt spielt Stamm mit stetig wechselnden Szenarien. Thomas, obwohl er seine Familie verlassen hat, liebt Frau und Kinder weiter. Der Drang nach Freiheit ist zwar ungebändigt; trotzdem ist seine innere Nähe zu seiner Familie und die Innigkeit der Liebe zu seinen Kindern zu spüren. Deren Reaktion auf das Fehlen des Vaters ist sehr subtil gezeichnet. Mit grosser Erzählkunst wird das Fehlen des Nachbarn, vom Mann im Dorf, vom Verwandten, nach und nach ans Licht gebracht.

Unterdessen wandert Thomas Richtung Innerschweiz. Ihn, der nichts dabei hat und sich zuerst ganz scheu nachts durch die Gegend schlägt, damit ihn niemand erkennt; dann immer freier, des Geldautomaten mittels Karte sich bedienend, in Dorfläden einkaufend, zu Fuss weiter gehend. Man begleitet ihn durch schöne Dörfer, Felder und Wälder, durch Gelände und Landschaften bis ins Gebirge. Infolge eines Sturzes über eine Geröllhalde verliert er beinahe sein Leben.

Der Leser wird in der Schwebe gelassen, worum es eigentlich in dieser dramatischen Geschichte geht. Nach und nach stellt man bei Astrid fest, dass sie auch so ihr Leben ohne ihren Mann weiter leben wird. Sie fragt sich zuerst, wohin er wohl gegangen ist; dann rätselt sie, ob er wohl wieder kommt, und zuletzt hofft sie nur, dass er noch lebt.

Thomas findet kurzzeitig eine Anstellung in einer Schreinerei in der Innerschweiz. Mehr weiss man am Ende des Buches nicht. Er hat es gewagt, ein anderer zu sein und sein eigenes Leben zu leben. Er hat sich von einem Traum locken lassen, der ihm Entfaltung ermöglicht, wohl aber auf Kosten eines Verlusts. Es bleibt die Erkenntnis, dass Beziehungen auch zum Scheitern verurteilt sein können.

Peter Stamm gehört zu den Schweizer Schriftstellern, der viel Anerkennung findet. Er lebt auf dem Seerücken (Bodensee-Gebiet) als freischaffender Künstler und ist Autor viele Hörspiele. Er schrieb bis dato vier Romane, fünf Erzählungssammlungen und einen Band mit Theaterstücken. Ich schätze seinen fliessenden, lesefreundlichen Erzählstil. „Weit über das Land“ öffnet nebenbei auch die Augen für die Schönheit von Schweizer Landschaften.